Buchvorstellung Astrid Proll: Hans und Grete. Die RAF 1967-1977

Sendemanuskript MANNcherlei 19. Oktober 1998

1. In der heutigen Sendung geht es um ein Buch – ein Bilderbuch, eine Art linksradikales Fotoalbum. Es geht um Astrid Prolls Bildband „Hans und Grete. Die RAF 1967-1977“. Ich hatte eine Besprechung des Buches in der Zeitung gelesen. Eine 20-jährige Lesbe kommt aus der hessischen Provinz nach Berlin. Berlin, das hieß Studentenbewegung, antiautoritäre Subkultur. Eine Protestbewegung noch nicht in erbittert verfeindete Fraktionen gespalten. Dort lernte Astrid Proll Gudrun Ensslin und Andreas Baader kennen. Sie organisierte sich mit ihnen – das Initiationsritual: eine Mutprobe, die sie damit bestand, daß sie eine Brandbombe bei einer Brandstiftung in einem Kaufhaus legte. Auf der Flucht vor der Polizei tauchten sie in die Illegalität unter, nannten sich RAF, Rote Armee Fraktion.

Eine Frauenfrau in der RAF – das hat meine Neugier geweckt, meinen Spürsinn herausgefordert. Außer mir scheinen das die meisten Genossinnen und Genossen für extrem getrennte Bereiche zu halten: linksradikal und feministisch gerät schnell zur entweder-oder-Entscheidung, zur Frage von Haupt- und Nebenwidersprüchen...

2. Auf den Spuren einer Frauenfrau in der RAF habe ich mir Astrid Prolls Bildband „Hans und Grete“ angesehen. Astrid Proll hat ein zeitgeschichtliches Fotoalbum veröffentlicht – kein privates. Auf diese Art verarbeitet sie die Geschichte der RAF, der „ersten Generation“ von Kämpferinnen und Kämpfern in der RAF, und ihre eigene Beteiligung daran.

Ja, und hier kommt die Herausforderung: wie kann ich etwas so visuelles, optisches wie ein „Fotoalbum“ in dem akustischen Medium Radio rüberbringen? Vielleicht am ehesten so: die Fotos sind nicht nur politische, zeitgeschichtliche Dokumente. Sie spiegeln das Lebensgefühl einer Generation wieder. Astrid Proll schreibt selber: „wenn ich heute diese Fotos sehe, fallen mir auf und gefallen mir die jugendliche Kraft, Vitalität und ungeschminkte Schönheit, die aus etlichen Gesichtern und Körpern spricht“, oder an anderer Stelle schreibt sie davon, daß die Rebellion damals, und so auch die RAF, aus einem Netz von Freundschaften und Liebschaften bestanden habe. Ja klar, wer wollte auch auf Dauer kämpfen ohne das, ohne daß die Ziele mit gemögten Menschen zu tun haben? Diese Art von liebevoller Solidarität, von geteilten Zielen und geteiltem Leben, ist in den Bildern zu spüren, unter der Oberfläche, sozusagen als Subtext. Ich glaube, es läßt sich mit Wörtern gar nicht richtig sagen, weder mit gesprochenen noch mit geschriebenen, weil Wörter zuviel Geerkläre sind, sich zu sehr rechtfertigen, und weil sie in dieser defensiven Position eine entscheidende Dimension der Geschichte nicht rüberbringen können. Was auf der visuellen Ebene Bilder können – ich hoffe, daß auf der akustischen Ebene Musik das Äquivalent dafür ist... Die Musik in dieser Sendung stammt von Zeitgenossinnen und -genossen. Radikale Musik aus der ersten Hälfte der 70er: europäischer Free Jazz und sogenannter Krautrock von Musikerinnen und Musikern, die manchmal von ganz ähnlichen Reflexionen und Wutgefühlen umgetrieben wie ihre Wohngemeinschaftskollegen, die sich bewaffneten. Ton Steine Scherben lassen wir weg, aber ihr hört: das Willem Breuker Kollektief, Goebbels & Harth, Irene Schweizer und die Gruppen Embryo, Faust, Eulenspygel sowie Amon Düüls Tanz der Lemminge.

3. Der Textteil von Astrid Prolls Bilderbuch ist knapp. Welche die Geschichte des Krieges zwischen dem Staat BRD und der RAF begrifflich erfassen wollen, analytisch und intelligent diskutieren – die brauchen wohl auch noch andere Bücher, welche zum Lesen statt zum Angucken, welche mit Texten statt mit Bildern.

Astrid Prolls Textteil „erklärt“ die Bilder nicht, sondern gibt lediglich eine ultraknappe Einführung.

Bei der Befreiung von Andreas Baader am 14. Mai 1970 wurde gewissermaßen die RAF geboren. Nach Astrid Proll war es eine Art „Betriebsunfall“, daß bei der Aktion einer gleich losgeschossen hat und sich danach alle Beteiligten auf Fahndungsplakaten wiederfanden und daraufhin gezwungen waren, vollends in die Illegalität unterzutauchen.

Demnach wäre die Gründung der RAF weniger eine politisch durchdachte Entscheidung – wie es sich in den Erklärungen aus dieser Zeit liest. Inge Viett schreibt in ihrer voriges Jahr erschienenen Autobiographie, ihre Entscheidung, sich der Guerilla anzuschließen, sei „zutiefst romantisch“ gewesen.

Die antiimperialistische Rezeption der RAF-Geschichte hat einseitig die verstandesmäßig-analytische Dimension betont – bei Astrid Proll und Inge Viett scheint das Pendel in die andere Richtung auszuschlagen. Möglicherweise ist es aber ja gerade die Übereinstimmung von Verstand und Gefühl, das Zusammenfallen von politischen Zielen und Lebensgefühl, die die Power dieses Aufbruchs, dieser Fraktion der Protestbewegung ausmachen?

4. Fotos sagen die Wahrheit, oder?

Die Geschichte des Krieges zwischen der RAF und dem BRD-Staat ist auch eine Geschichte der medialen Inszenierungen. Es ist Astrid Proll gelungen, in ihrem Fotoalbum-Bilderbuch die Bilder noch einmal anders zu inszenieren, sie aus der Lüge des scheinbar authentisch-Dokumentarischen rauszuholen. Astrid Proll illustriert mit den Fotos das politische Lebensgefühl einer Generation – und ich kann jetzt gar nicht alle Bilder aufzählen, die vorkommen: Demos, Pflastersteine, Wasserwerfer, Rainer Langhans – umstrittener Aktivist aus der Kommune 1, in Frauenkleidern, die ihn mehr als Provozierenden denn als geschmacks- und stilsichere Schönheit zeigen –, bekannte Fotos wie das vom toten Benno Ohnesorg, liebevoll-private zusammen mit Ingrid Schubert in der gemeinsamen Wohnung oder von einem gemeinsamen Paris-Aufenthalt zusammen mit ihrem Bruder Thorwald, mit Andreas Baader und Gudrun Ensslin. Dann aber auch Fahndungsplakate, Faksimiles von Briefen und Erklärungen aus dem Knast, Fotos aus dem Knast.

„Wir wollten radikal sein, mutig sein, vorneweg sein, wir fühlten uns als Avantgarde... Wir lebten eine Art bewaffneten Existenzialismus. Die Männer wollten endlich loslegen. Während sie liebevoll ihre Waffen putzten, leisteten die Frauen den Großteil der Organisations- und Denkarbeit. Wir Frauen haben ebenfalls Banken überfallen, aber wir taten es vorsichtiger und bedachter. Ich trug auch eine Waffe, obwohl ich, bevor ich sie benutzt hätte, alles andere versucht hätte, um mich zu verteidigen. Die Waffe war der Mitgliedsausweis der RAF, wobei wir sie anfangs in Anlehnung an die Black Panthers nur als Mittel begriffen, um uns notfalls zu verteidigen“ – das schreibt die Frauenfrau Astrid Proll über den geschlechtsspezifisch verschiedenen Umgang mit dem bewaffneten Leben in der Illegalität. Sie selbst erlebt in Hamburg ein Tief, als ihre Freundin die Gruppe verläßt, weil sie die Fetischisierung der Waffe nicht mitmachen wollte. Es findet sich in dem Buch ein eindrückliches Foto zur Illustration: drei Handgranaten – „was sind denn das für Fetische?“ fiel uns spontan zu dem Bild ein...

5. Nicht alles läßt sich mit Fotos sagen – es gibt politische Erfahrungen, die doch die Wörter brauchen, um verständlich erklärt zu werden. Nicht mit Bildern beschreiben läßt sich, was Isolationshaft bedeutet, „weiße Folter“: der Entzug von sämtlichen akustischen und optischen Reizen, von zwischenmenschlichen Kontakten. Dazu Astrid Proll in ihrem einleitenden Text zum Buch: „Anfangs war ich in Köln in einem normalen Hafthaus isoliert, dann wurde ich in eine noch nicht belegte Abteilung gebracht, in dem nur ich alleine saß. Ulrike Meinhof nannte ihn später ‘Stille Abteilung’. Das unglaublich Schockierende daran war, daß ich keinerlei Geräusche außer denen, die ich selbst erzeugte, hörte. Nichts. Absolute Stille. Ich verfiel in Erregungszustände, mich verfolgten optische und akustische Halluzinationen. Extreme Konzentrationsstörungen, Schwächeanfälle. Ich wußte nicht, wie lange das noch geht. Ich hatte schreckliche Angst, verrückt zu werden.“

Fotos allein erzählen die Geschichte nur fragmentarisch, und je nachdem in welchem Zusammenhang sie gezeigt werden, können sie manipulativ dieses oder jenes illustrieren.

Astrid Proll bietet eine sehenswerte Auswahl vom Lebensgefühl und der politischen Lage, in der die Aktivistinnen der ersten Generation der RAF kämpften. Sie hat selber dazu gehört – ihre Auswahl ist subjektiv. Gerade das macht diese Geschichte begreifbar.

6. Gestern vor 21 Jahren, am 18. Oktober 1977 wurden die Gefangenen aus der RAF Gudrun Ensslin, Ingrid Schubert, Jan-Carl Raspe und Andreas Baader tot in ihren Zellen gefunden. Die amtliche festgestellte Todesursache: Selbstmord. Naheliegend ist allerdings der Gedanke an so etwas wie Blutrache: nachdem die RAF bei der Entführung des Arbeitgeberpräsidenten Schleyer seinen Fahrer und drei Bodyguards umgebracht hatten, mußten vier Gefangene als Geiseln im Gegenzug ebenfalls sterben. Die Untersuchungen, mit denen definitiv Suizide hätten bewiesen werden können, Morde von staatlicher Seite hätten ausgeschlossen werden können, wurden unterlassen. Stattdessen werden bis heute Menschen, die auf ihrer Wahrnehmung beharren, daß es sich um staatlich beauftragte Morde gehandelt habe, mit §90a StGB kriminalisiert – dabei handelt es sich um eine Art „Majestätsbeleidigungsparagraphen“ der die sogenannte „Verunglimpfung des Staates“ unter Strafe stellt. Astrid Proll meint, der Staat habe „mit überzogener Härte“ auf ihre spontane Rebellion reagiert, und daraus habe sich ein gnadenloser, sinnloser Kampf entwickelt. An der Stelle unterschätzt sie wohl die Logik präventiver Konterrevolution. Alle können wissen, wie dieser Staat mit seinen Gegnerinnen umgeht – ein Staat, der sich weigert, den Beweis zu erbringen, daß er keine Gefangenen hat ermorden lassen. Befreiungspolitik nach 1977 ist grundsätzlich nicht mehr die gleiche wie davor – zu wirksam ist die einschüchternde Drohung, die sich mit den vier Toten vom 18.10.77 verbindet.

1977 ist eine Zäsur – eine Mauer aus Angst und Einschüchterung, die viele Genossinnen und Genossen, die heute nach Wegen zur Befreiung suchen, daran hindert, ihre politischen Wurzeln zu finden. Die liegen unter anderem auch in der Zeit vor 1977.

Hans und Grete, das waren die Tarnnamen von Andreas Baader und Gudrun Ensslin in der Illegalität. Hans und Grete heißt der Titel eines linksradikalen Fotoalbums, das die Ex-RAF-Genossin Astrid Proll herausgegeben hat. Das Buch ist im Steidl Verlag erschienen und kostet 29,80 DM.

Das Buch der Frauenfrau Astrid Proll hat meine sozusagen archäologische Neugier geweckt – das Graben lohnt sich. Für Linksradikale, für Frauenfrauen und andere auf der Suche nach einer Befreiungsperspektive – und nach den Wurzeln ihrer Kraft und ihres politischen Engagements.

Playlist

Herzlichen Dank an meinen Kollegen P.J. Lützenkirchen, der die Musikauswahl besorgte!