Reutlingen und Tübingen brauchen ein freies Radio – oder doch nicht?

Seit beinahe 13 Jahren ist die Wüste Welle auf Sendung. Wir haben ungezählte Stunden Arbeit und wahrscheinlich ebensoviele Stunden Vergnügen hineingesteckt, viele HörerInnen erfreut und geärgert – alles in allem ein netter Zeitvertreib.

140.000 Euro kostet es jährlich allein an Geld, ein freies Radio zu betreiben. Einsparpotenziale in nennenswertem Umfang sehe ich nicht. Umgerechnet auf die Sendezeit bedeutet das, daß eine Stunde Live-Sendezeit ca. 34 Euro kostet (wenn das Liveprogramm weiter ausgeweitet und die Wiederholungen reduziert werden können, wird es noch ein bißchen günstiger), eine wöchentlich einstündige Sendung kostet also jährlich ca. 1.800 Euro. Seither kam der allergrößte Teil des nötigen Geldes aus Rundfunkgebühren, verteilt durch die LfK. Dies ist nicht in allen Bundesländern so: in Hessen etwa kriegen freie Radios mehr Geld, während beispielsweise in Bayern oder in Mecklenburg-Vorpommern die Radios nur eine Lizenz zum Senden haben, aber keine Förderung aus Rundfunkgebühren erhalten.

Die neuen Förderrichtlinien der LfK führen dazu, daß in Baden-Württemberg das Geld aus Rundfunkgebühren zumindest teilweise umverteilt wird: daß wir für die gleiche Fördersumme mehr Projektarbeit betreiben müssen und weniger für den laufenden Betrieb verwenden können. Unsere Lizenz läuft noch bis 2011 – ob danach in Baden-Württemberg überhaupt noch nichtkommerzielle Lokalradios lizenziert werden, ist derzeit noch nicht absehbar.

Wie können wir dieser Situation begegnen?

Eine zahlenmäßig nicht zu unterschätzende Strömung nimmt diese Entwicklung hin, fügt sich gewissermaßen ins Radioschicksal, und unternimmt keine (oder jedenfalls keine ernsthaft erfogversprechenden!) Versuche, das Radio finanziell auf andere Beine zu stellen.

Das Worst-Case-Szenario ist, daß wir in ein paar Jahren überhaupt kein Geld mehr von der LfK kriegen. Ich halte es für sinnvoll, das einmal durchzurechnen, was es bedeuten würde wenn wir unseren kompletten Etat aus „eigener Kraft“ aufbringen müßten, um eine realistische Vorstellung davon zu bekommen, was wir schaffen müssen. Wenn es dann hoffentlich doch nicht ganz so schlimm kommt, haben wir nachhaltig etwas für die Wüste Welle und ihre Finanzierung und ihre politisch-kulturelle Verankerung getan, was ja auf keinen Fall sinnlos oder unnötig ist.

Wenn ich vorsichtig rechne, kann ich mit ca. 8.000 Euro aus Mitgliedsbeiträgen der Sendungsmachenden kalkulieren. Dann fehlen uns 132.000 Euro. Sorry, 100 neue Mitglieder, das Ziel unserer aktuellen Werbekampagne, reichen dafür bestimmt nicht – oder können wir damit rechnen, daß jedes neue Mitglied jährlich 1.320 Euro Beitrag bezahlt?

Wenn alle Mitglieder (außer denen, die Sendung machen) nur den Mindestbeitrag bezahlen, brauchen wir 6.600 Mitglieder. Oder wir gewinnen 3.000 Spenderinnen und Spender, die uns jährlich eine „alternative Rundfunkgebühr“ von ca. 50 Euro überweisen. Oder jede der 80 Sendungen bringt zusammen mit ihrem „Fanclub“ jährlich zwischen 1.500 und 2.000 Euro auf.

Und überhaupt: Finanzierungsarbeit ist Öffentlichkeitsarbeit, und umgekehrt. Es darf tendenziell keine Geldbeschaffungsaktionen (Projektanträge etc.) mehr geben, die nicht auch der weiteren politischen Verankerung des Radios dienen, und erst recht ist Öffentlichkeitsarbeit kein Selbstzweck, sondern sie dient in starkem Maße dazu, die finanziellen Mittel einzuwerben, mit denen nicht nur die Öffentlichkeitsarbeit selbst, sondern der Betrieb des Radios insgesamt gesichert wird.

Ich denke, daß wir in 13 Jahren zu wenig über eine gewisse Selbstgenügsamkeit hinausgewachsen sind: wir machen ein nettes kleines (inzwischen gar nicht mal mehr ganz so klein) Programm für einige nette kleine Minderheiten. Es gibt aber in Reutlingen und Tübingen eine Menge Menschen, die etwas zu sagen haben was von öffentlichem Interesse ist, und die bis jetzt noch kein oder zu wenig Gehör finden. Um die kümmern wir uns bisher viel zu wenig.

Zum Teil liegt das daran, daß wir alle mehr oder weniger egomanische SelbstdarstellerInnen sind – ein gewisses „Sendungsbewußtsein“ gehört zum Radiomachen einfach dazu… Wir könnten aber auch einen Teil unserer Arbeit als Service verstehen, wo wir interessanten Menschen aus den verschiedensten Kulturen und politischen Richtungen einen Ort bieten, wo sie sich öffentlich äußern können, wo die relevanten Debatten in den beiden Städten vorkommen (auch die, die beim Gea und beim Tagblatt hinten runterfallen). Es wäre ein Service für das jeweilige Gemeinwesen, den theoretisch niemand so gut bieten kann wie wir.

Gut auf den Punkt gebracht hat das im Dezember 2005 Christian Schurig, Direktor der Landesmedienanstalt Sachsen-Anhalt, der freien Radios recht wohlgesonnen ist:
„Die Bürgermedien müssen viel konsequenter als bisher programmliche Alleinstellungsmerkmale erarbeiten, die sie positiv von öffentlich-rechtlichen wie auch privat-kommerziellen Angeboten abheben: Konsequente Lokalität, Authentizität, Direktheit / Betroffenheit, Aktualität, Stärkung des dokumentarischen wie des experimentellen Charakters, kulturelle Offenheit und Vielfalt, Zielgruppenorientierung (auch) jenseits des Mainstreams sind nur einige Stichworte, die zur konkreten Kennzeichnung bürgermedienspezifischer Programmleistungen diskutiert werden sollten. Viele Bürgermedien haben sich dieser Aufgabe in der jüngsten Vergangenheit bereits angenommen, was aber fehlt, ist ein senderübergreifender Diskurs über die „großen Entwicklungslinien“ und die Vermittlung der Ergebnisse interner Diskussionen nach außen, insbesondere in den Bereich der administrativen und politischen Entscheider. Ohne den Sendern die inhaltliche Diskussion im Detail abnehmen zu können, sollten die Medienanstalten als Verstärker und Beschleuniger hilfreich zur Seite stehen.“

Ob wir eine solche Rolle von der LfK erwarten (oder gar einfordern) können, kann ich nicht beurteilen. Einstweilen haben wir bei der Wüsten Welle jedenfalls die skizzierte Diskussion noch überhaupt nicht geführt, trotz der Entwicklungschancen die hier liegen, und obwohl es da um den Kern unserer gesetzlich definierten Aufgabe geht. Damit will ich nicht sagen, daß nicht weiterhin auch internationalistische oder andere übers Lokale hinausreichende Themen im Programm vorkommen sollen – ich spreche nicht für kleinkarierte Provinzialität! Umgekehrt die lokalen Diskussionen ängstlich auszusparen, weil sie mehr „realo“ sind (und gelegentlich reichlich spießig, siehe zB die Diskussionen in den vergangenen Monaten rund um die Wagenburg) als unserer politischen Kragenweite entspricht, halte ich für einen Riesenfehler, wenn es uns auch in fünf oder zehn Jahren noch geben soll. Eine starke lokale Verankerung könnte gerade auch denen unter uns, die radikalere Inhalte vertreten und senden, den Rücken stärken, weil sie hier vor Ort bekannt sind, mit ihrer Arbeit respektiert werden, und nicht so leicht abserviert werden können. Ich möchte das Programm stärker öffnen für lokale Initiativen, GemeinderätInnen, örtliche Vereine undundund, ohne es darauf zu beschränken. Das wird uns einiges an Arbeit kosten und uns erheblich kulturelle und politische Flexibilität abverlangen – der Preis ist nicht gering. Was wir dafür bekommen können, ist daß wir mit unseren widerspenstigen ebenso wie mit den rar-skurrilen Inhalten weiterhin gehört werden können – zukünftig vielleicht sogar von mehr Menschen als seither.

Frau Mann (1. März 2008)