Aus der Krachmacherstraße – with love and respect…

Zum Tod von Astrid Lindgren am 28. Januar 2002

„Astrid Lindgren – was willst du denn über diese reaktionäre Tante schreiben?“ wurde ich von einem Genossen gefragt. Ganz so einfach liegen die Dinge allerdings nicht. Wer genauer hinschaut und sich nicht davon täuschen lässt, daß Lindgrens Bücher auch von reaktionärer Seite vereinnahmt wurden, trifft eine Autorin, die etwas zu sagen hat über den Zustand der Welt und über umfassende Befreiung der Menschen; darüber, wie ein glückliches Leben für alle zu bewerkstelligen ist – nicht nur für die Erwachsenen.

Astrid Lindgren gehörte der Generation meiner Großmütter an und ist Ende Januar 94-jährig gestorben; am 8. März, dem internationalen Frauentag, wird sie in ihrem Geburtsort Vimmerby beigesetzt. Ihre vielen Kinderbücher waren international erfolgreich – das bekannteste ist „Pippi Langstrumpf“ (erschienen 1945). Die Figuren ihrer Bücher sind unglaublich lebendige, fantasievolle Kinder, oft „böse“, unartig nach herkömmlichen Maßstäben. Michel beispielsweise: „In ganz Lönneberga, in ganz Småland und ganz Schweden und – wer weiß – vielleicht auf der ganzen Welt hat es noch nie einen Jungen gegeben, der mehr Unfug gemacht hat als dieser Michel“. Die Erwachsenen haben ihre liebe Not mit diesen Rangen, weil alle Erziehung sich als zwecklos erweist und ihnen bleibt schließlich nicht viel anderes übrig, als liebevoll mit diesen Kindern zurechtzukommen, zusammen zu leben.

Ich bin nicht die einzige, die mit Astrid Lindgrens Büchern schon seit Kinderzeiten zusammenlebt. Von vielen ihrer Figuren habe ich im Lauf der Jahre einiges gelernt, was ich gerade in der politischen Arbeit gut brauchen kann, sei es die Ferkelblinzelliste für all meine Vorhabungen und Planungen („Madita hat Ideen schneller als ein Ferkel blinzelt“), sei es eine gewisse Schwäche für Männer wie Karlsson vom Dach („ein gerade richtig dicker Mann in den besten Jahren“), und zuletzt habe ich mir die Maxime von Lotta (aus der Krachmacherstraße) zu eigen gemacht: „ich mag es, wenn sich die Leute vor mir fürchten!“. In der Krachmacherstraße bin ich aufgewachsen und wohne ich heute noch. Im Gegensatz zum Papa der Kinder aus der Krachmacherstraße weiß ich, daß die Straße ihren Namen nicht etwa von lauten Kindern hat, sondern in Wirklichkeit von lauten Autos, und diese Kinderperspektive hat sich mir bis ins erwachsene (verkehrs-)politische Leben erhalten.

Jenseits milder Erinnerungen an eine behütete Kindheit mit Büchern, die eine gute Portion „heile Welt“ transportierten – was ist das Besondere an Astrid Lindgren? Ich glaube es ist vor allem das, daß sie nie vergessen hat, wie es ist, Kind zu sein. Daß sie immer wußte, wie es sich anfühlt – und daß Erwachsene im Grunde auch nicht anders sind als Kinder. Oder, wie ihr Sohn Lars einmal über sie sagte: „Sie war nicht wie andere Mütter. Sie saß nicht auf einer Bank bei der Sandkiste und guckte zu, wie die Kinder spielten. Sie wollte selbst mitspielen.“ Nach ihren eigenen Erzählungen hat sie eine glückliche Kindheit verbracht. Die glückliche Kindheit mit ihren eigenen Kindern wurde ihr dann nicht in den Schoß gelegt – sie wurde mit 19 Jahren Mutter und wollte den Kindsvater partout nicht heiraten, was zunächst einmal hieß, daß sie ihren Sohn zu einer Pflegefamilie geben mußte; 1926 war es unmöglich, als alleinerziehende Mutter zu leben. 1931 heiratete sie, holte Lars wieder zu sich. Ihre Tochter wurde 1934 geboren. Aus den Geschichten, die sie ihren Kindern erzählte, entstanden ihre ersten Kinderbücher.

1978 erhielt Astrid Lindgren den Friedenspreis des deutschen Buchhandels. In ihrer Dankesrede formulierte sie ihre politische Haltung (zitiert nach Süddeutsche Zeitung vom 16.02.2002):

„Die Intelligenz, die Gaben des Verstandes mögen zum größten Teil angeboren sein, aber in keinem neugeborenen Kind schlummert ein Samenkorn, aus dem zwangsläufig Gutes oder Böses sprießt. Ob ein Kind zu einem warmherzigen, offenen und vertrauensvollen Menschen mit Sinn für das Gemeinwohl heranwächst oder aber zu einem gefühlskalten, destruktiven, egoistischen Menschen, das entscheiden die, denen das Kind in dieser Welt anvertraut ist, je nachdem, ob sie ihm zeigen, was Liebe ist, oder aber dies nicht tun…

Wie viele Kinder haben ihren ersten Unterricht in Gewalt „von denen, die man liebt“, nämlich von den eigenen Eltern, erhalten und dieses Wissen dann der nächsten Generation weitergegeben! (…) In den vielen von Haß geprägten Kindheitsschilderungen der Literatur wimmelt es von solchen häuslichen Tyrannen, die ihre Kinder durch Furcht und Schrecken zu Gehorsam und Unterwerfung gezwungen und dadurch für das Leben mehr oder weniger verdorben haben. Zum Glück hat es nicht nur diese Sorte von Erziehern gegeben, denn natürlich haben Eltern ihre Kinder auch schon von jeher mit Liebe und ohne Gewalt erzogen. Aber wohl erst in unserem Jahrhundert haben Eltern damit begonnen, ihre Kinder als ihresgleichen zu betrachten und ihnen das Recht einzuräumen, ihre Persönlichkeit in einer Familiendemokratie ohne Unterdrückung und ohne Gewalt frei zu entwickeln…Freie und unautoritäre Erziehung bedeutet nicht, daß man die Kinder sich selber überläßt, daß sie tun und lassen dürfen, was sie wollen. Es bedeutet nicht, daß sie ohne Normen aufwachsen sollen, was sie selber übrigens gar nicht wünschen. Vertrauensnormen brauchen wir alle, Kinder und Erwachsene, und durch das Beispiel ihrer Eltern lernen die Kinder mehr als durch irgendwelche anderen Methoden. Ganz gewiß sollen Kinder Achtung vor ihren Eltern haben, aber ganz gewiß sollen auch Eltern Achtung vor ihren Kindern haben, und niemals dürfen sie ihre natürliche Überlegenheit mißbrauchen. Liebevolle Achtung voreinander, das möchte man allen Eltern und allen Kindern wünschen (…)Ja, aber wenn wir unsere Kinder ohne Gewalt und ohne irgendwelche straffen Zügel erziehen, entsteht dadurch schon ein neues Menschengeschlecht, das in ewigem Frieden lebt? Etwas so Einfältiges kann sich wohl nur ein Kinderbuchautor erhoffen! Ich weiß, daß es eine Utopie ist. Und ganz gewiß gibt es in unserer armen, kranken Welt noch sehr viel anderes, das gleichfalls geändert werden muß, soll es Frieden geben. Aber in dieser unserer Gegenwart gibt es – selbst ohne Krieg – so unfaßbar viel Grausamkeit, Gewalt und Unterdrückung auf Erden, und das bleibt den Kindern keineswegs verborgen. Sie sehen und hören und lesen es täglich, und schließlich glauben sie gar, Gewalt sei ein natürlicher Zustand. Müssen wir ihnen dann nicht wenigstens daheim durch unser Beispiel zeigen, daß es eine andere Art zu leben gibt? (…) Es könnte trotz allem mit der Zeit ein winziger Beitrag sein zum Frieden in der Welt.“

Daß eine im bürgerlichen Lager anerkannte Kinderbuchautorin sich derart eindeutig und bestimmt für die Rechte der Kinder ausspricht – für das Recht auf Respekt und ein Zusammenleben ohne Gewalt, hat mich beeindruckt, als ich, damals 15jährig, diese Rede in der Zeitung las: die Autorin so vieler von mir geliebter Kinderbücher fand, daß die Herstellung und Ermöglichung von Frieden mit gewaltfreier Kindererziehung anfängt.

Das klingt rührend altmodisch. Ist es auch – so ähnlich wie unser Beharren auf Solidarität oder der „Abschaffung aller Verhältnisse, in denen der Mensch ein verächtliches, ein erniedrigtes, ein geknechtetes Wesen ist“… Und ich denke, daß Astrid Lindgren damit goldrichtig lag: mit dem (biographisch gesehen) ersten und grundlegendstem Herrschaftsverhältnis – dem zwischen Erwachsenen und Kindern.

Für unsere weitere politische Arbeit wird das entscheidend sein: nicht zu vergessen, wie es für die Kinder ist. Die Anstrengung auf uns zu nehmen, die es bedeutet, mit fantasievollen, eigensinnigen, aufmüpfigen… Kindern respekt- und liebevoll zusammen zu leben. In diesem Sinne ist das Studium der Werke Lindgrens mindestens ebenso wichtig wie etwa der Leninschen oder Marxschen Schriften.