Hunger!

Eine 1999 erschienene Geburtstagsplatte: „Hunger“ is a landmark CD, celebrating the 25th anniversary of the Willem Breuker Kollektief.

Es musizieren die Sängerin Loes Luca und elf Musiker/inn/en, vor allem mit Blasinstrumenten (von verschiedenen Saxofonen über Posaune und Tuba bis zur Mundharmonika), aber auch anderen (Geige, Ukulele, Bass, Klavier, Synthesizer…) und ihren Stimmen.

Auf der CD sind zwei von Willem Breuker komponierte Suiten („Vuurpijl“, „Hunger“) und ein Stück vom Drummer Rob Verdurmen („A daily stroll“ – ein netter spätromantisch bis free-jazzig klingender Spaziergang). Die anderen Stücke wurden von weiteren Ensemblemitgliedern für das Willem Breuker Kollektief arrangiert. Sie stammen aus dem Fundus „klassischer“ Komponisten des 19. Jahrhunderts (Chopin, Rossini und der ziemlich unbekannte John Roger Thomas), 20er Jahre Jazz (ganz wundervoll Lore Lynn Tryttens singende Säge auf „Yes, we have no bananas“!) und französischer Chansons (Boris Vian!).

Was ist diese Musik: Klassik? Jazz? Tanzmusik (Walzer und Tango sind nicht zu überhören und auch „To Europe“ geht schwer ins Tanzbein)? Willem Breuker dazu: Wir spielen einfach Musik und machen dabei noch eine Reihe anderer Dinge, die man von Musikern weniger gewohnt ist. Ob das nun Jazz, E- oder U-, A-, C- oder D-Musik ist, finde ich dabei völlig uninteressant. In letzter Zeit sage ich immer: Ich spiele Menschenmusik.

Die Faszination, die vom Willem Breuker Kollektief ausgeht, liegt im Gesamtkonzept der Band begründet: der Mischung aller musikalischen Stile, der Verbindung von Kunstmusik mit Formen der populären Musik. Dabei entsteht eine mit viel Humor perfekt vorgetragene „Musikclownerie" heraus, die in der internationalen Jazz-Szene ihresgleichen sucht.

Das Willem Breuker Kollektief ist einer der „Altvorderen“ der alternativen Blasmusikbewegung der 70er Jahre, als Gruppen wie das „Sogenannte linksradikale Blasorchester“ (Frankfurt), die „Rote Note“ (Freiburg) oder „Trotzblech“ (Tübingen) die alltagspraktische Demotauglichkeit dieser Musik (die Instrumente transportabel, die Musik ohne Strom, aber trotzdem laut!) erprobten. Noten der Arrangements von Willem Breuker kursierten jedenfalls in der Szene. Und „volkstümlich“, als was Blasmusik gilt, ist nicht gleich reaktionär!

Bemerkenswert, wenn MusikerInnen sich heute noch als „Kollektiv“ bezeichnen – und es auf der Platte „Hunger“ auch tatsächlich sind, in dem Sinne, dass nicht nur des Bandleaders Kompositionen und Arrangements zu Gehör gebracht werden, sondern auch die der anderen. Bemerkenswert auch, dass sie ihre Platten auf dem eigenen, von Willem Breuker gegründeten Label BVHAAST veröffentlichen. Allerdings vermute ich, dass die MusikerInnen nicht alle von den Einnahmen des Willem Breuker Kollektiefs leben müssen, sondern ihre Brötchen im E-Musik-Business verdienen.

Auffällig an „Hunger“ ist der selbstverständliche, keineswegs missionarisch-plakative, sondern eher untergründig-subtile politische Anspruch. Das Cover erinnert an sozialistische Kunst der 20er Jahre. Im Text zur CD verweist Willem Breuker darauf, dass er im außerordentlich kalten Hungerwinter 1944/45 unter der Nazi-Besatzung geboren wurde, trotzdem gedieh und später mit den sozialistischen Idealen des Nachkriegsholland aufwuchs.

Hunger schließlich, die Titel-Suite, ist ein vierteiliges musikalisches Bild von Auflehnung, Revolte, Kampf um das Nötigste zum Leben, angefangen mit „Distant thunder“ über „Bread riot“ und „Red sunrise“ zu „Time is an empty bottle of wine“. Letzteres, mein Lieblingsstück, ist in meinen Ohren die musikalische Übersetzung des Begriffs „Spätkapitalismus“ – gar nicht zynisch gemeint, obwohl das auch anklingt, sondern eher hoffnungsvoll. Die GenossInnen vom früheren “Roten Morgen“ mögen mir’s an der Stelle verzeihen, dass wir nach dem „Red Sunrise“ immer noch im Kapitalismus leben - in diesem Sinne ist das Finale von Hunger eine musikalische Anleitung zur permanenten Revolution!

Aber der letzte Absatz ist für dieses Stück vergnügliche und mutmachende Musik viel zu plakativ…

Willem Breuker Kollektief: Hunger! (1999, BVHAAST)